Warum Antisemitismus alle angeht

Dr. Milena Hasselmann, Pfarrerin, Institut Kirche und Judentum

Die Stiftung Garnisonkirche lädt zum Diskussionsabend „Antisemitismus und evangelische Kirche – Geschichte oder Gegenwart?“ Ein Interview im Vorfeld mit Dr. Milena Hasselmann vom Institut Kirche und Judentum.

 

Dr. Milena Hasselmann ist Pfarrerin am Institut Kirche und Judentum. Am 30. September diskutiert sie mit Pfarrer Dr. Jan Kingreen unter dem Titel „Die Judensau: Antisemitismus und evangelische Kirche – Geschichte oder Gegenwart?“ Worum geht es genau? Warum ist Hasselmann das Thema so wichtig? Fünf Fragen im Vorfeld.

 

„Die Judensau“ lautet der provozierende Titel der Diskussionsveranstaltung in der Nagelkreuzkapelle. Ein schockierendes, tabuisiertes Schimpfwort. Ist es etwa wieder aktuell?

 

Dr. Milena Hasselmann: Der Begriff „Judensau“ spielt zunächst einmal an auf Bauliches. Es ist der derzeit noch etablierte Begriff für Schmähbilder, wie wir sie zum Beispiel an der Stadtkirche in Wittenberg oder auch im Brandenburger Dom finden. Es handelt sich um in Stein gemeißelte Abbildungen, vor allem aus dem Mittelalter und der nachreformatorischen Zeit, die Juden verunglimpfend darstellen. Also zum Beispiel, wie sie an Schweinezitzen saugen. In der evangelischen Kirche wird seit vielen Jahren diskutiert, was mit diesen Abbildungen geschehen soll.

 

Und, gibt es schon eine Antwort?

 

Es gibt keine allgemeingültige Lösung. Sie unkommentiert hängen zu lassen ist heute – zum Glück – eigentlich keine Lösung mehr. Sie unkommentiert zu entfernen wirkt jedoch schnell wie Geschichtskittung. Wie ein verantwortungsvoller Umgang aussehen kann, ist auch vom Standort der Abbildung und von den baulichen Gegebenheiten abhängig. Mindestens eine Einordnung in den historischen Kontext und eine Distanzierung von der ursprünglichen Intention ist aber an den meisten Orten der gewählte Umgang. Dies sind Fragen, die sich ja auch bei der Rekonstruktion der Potsdamer Garnisonkirche immer wieder stellen. Die Kernfragen lautet: Wie gehen wir mit unserem Erbe um? Was sollten wir wie erhalten? Wie müssen wir moderieren?

 

Fakt ist, dass Antisemitismus nicht Vergangenheit, sondern höchst gegenwärtig ist. 2022 erfassten die Behörden in Deutschland 2641 antisemitische Straftaten, 88 davon waren Gewalttaten. Der Verfassungsschutz beschreibt das Internet als „wesentlichen Dynamisierungsfaktor“ antisemitischer Hetze (Quelle: Mediendienst Integration). Wo liegen Ihrer Ansicht nach die tieferen Gründe für judenfeindliche Einstellungen und Taten?

 

Die Zahlen sind in der Tat erschreckend, das Dunkelfeld ist sicher noch größer, antisemitische Vorfälle, die nicht als Straftaten qualifizieren, noch viel zahlreicher. Doch wenn ich über Antisemitismus spreche, bemühe ich selten solche Zahlen. Denn sie sorgen für Distanz, weil dann schnell der Eindruck entsteht: „Straftat? Gewalt? Das bin ich nicht.“ Dabei geht Antisemitismus jeden an, gerade auch Menschen mit einem christlichen Selbstbild.

 

Wie meinen Sie das?

 

Mir ist wichtig zu zeigen, dass Spuren des Antisemitismus tief in unserem kulturellen Gedächtnis verankert sind – und sich der säkulare Antisemitismus aus Bildern und Begriffen speist, die aus der christlichen Tradition stammen. Der Pharisäer zum Beispiel. Wir bezeichnen damit noch heute einen Heuchler. Dieses Bild ist entstanden, weil das entstehende Christentum eine scharfe Abgrenzung suchte, dazu diente im Neuen Testament ein Bild der Pharisäer, das mit der historischen Wirklichkeit nur punktuell etwas zu tun hatte. Das Judentum wurde also zu einem ganz bestimmten Zweck negativ dargestellt. Indem wir diese und andere Bilder verwenden und die Chance verstreichen lassen, andere Bilder zu prägen, tragen wir internalisierte antijüdische Bilder weiter. Wir am Institut Kirche und Judentum wollen solche Erkenntnisse in die Kirchen und die Gesellschaft vermitteln. Wir geben zum Beispiel Fortbildungen für Pfarrerinnen und Pfarrer und bekommen auch ganz konkrete Anfragen, etwa: Wie erzählt man biblische Geschichten nicht-antisemitisch?

 

Was ist Ihre persönliche Motivation, sich für den jüdisch-christlichen Dialog einzusetzen, und was wünschen Sie sich für den Diskussionsabend in der Nagelkreuzkapelle?

 

Durch Freundschaften habe ich das Judentum früh kennengelernt, lange bevor ich mir der schmerzvollen Geschichte der jüdisch-christlichen „Vergegnung“ bewusst war. Mich hat die Verbundenheit des Christentums mit dem Judentum fasziniert, und spätestens, als ich ein Jahr lang in Jerusalem studiert und gelebt habe, habe ich begriffen, wie relevant diese Verbindung für christliche Identität ist. Das möchte ich gerne weitergeben. Dabei bedeutet Verbundenheit nicht Unterschiedslosigkeit, gerade die Eigenständigkeit beider Religionen im Wissen um die geteilten Traditionen macht die Begegnung spannend. Ein Ort wie die Nagelkreuzkapelle am Turm der Garnisonkirche in all seiner historischen Ambivalenz und als Ort, der sich der Erinnerung und Geschichtsaufarbeitung verschrieben hat, ist für diese Themen sehr geeignet. Wichtig ist aber, nicht nur historisch und im Zusammenhang mit der Shoah auf das Judentum zu blicken, sondern die Vielfalt des Judentums in Geschichte und mehr noch in der Gegenwart wahr- und ernstzunehmen.

 

Das Institut Kirche und Judentum ist ein An-Institut der Humboldt Universität Berlin und Werk der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz.

 

Interview: Beatrix Fricke