Menschen erzählen als „lebendige Bücher“

"Lebendige Bibliothek" in der Garnisonkirche Potsdam am 23. September 2024

Zum ersten Mal fand in der Garnisonkirche Potsdam eine „Lebendige Bibliothek“ statt. Das Interesse war groß, das Feedback sehr positiv.

 

Menschen kommen als „Bücher“ zu Wort, teilen ihre Lebensgeschichten im persönlichen Gespräch: Wie besonders dieses Veranstaltungsformat ist, zeigt sich gleich zu Beginn der „Lebendigen Bibliothek“ in der Garnisonkirche Potsdam.

 

„Erzählen Sie mal: Wie lautet denn nun der Titel Ihrer neuesten Publikation?“, fragt ein älterer Herr die 32-jährige Anna Antonova vom jüdischen Jugendclub in Potsdam. Als diese lächelnd erklärt, kein Buch veröffentlicht zu haben, sondern an diesem Abend ganz unmittelbar von ihren Erfahrungen berichten zu wollen, ist der Herr erstaunt – und sehr erfreut. Kurze Zeit später sind die beiden in ein Gespräch vertieft.

 

Knapp 50 Menschen sind am Montagabend ins Forum gekommen, einen der Bildungsräume in der Garnisonkirche – sieben von ihnen als „Lebendige Bücher“. Gemeinsam ist ihnen, dass sie in der DDR einer Religionsgemeinschaft angehörten oder heute keinen sicheren Raum für ihre Religion besitzen. Die vier Frauen und drei Männer sitzen verteilt in unterschiedlichen Nischen, während das Publikum am Ausleihtisch Marken für seine Bibliotheksausweise erwirbt. Je zwei „lebendige Bücher“ können an diesem Abend für je 30 Minuten „ausgeliehen“ werden.

 

"Ausleihe" in der Lebendigen Bibliothek am 23. September 2024

Der Ausleihtisch in der Lebendigen Bibliothek

 

„Ich empfinde Dankbarkeit“

 

Tiana, Kiara und William, Studierende der Universität Potsdam, haben sich Dieter Wendland als „lebendiges Buch“ ausgewählt. „Das ist so fremd, fast schon surreal, dass Herr Wendland in der DDR kein Abitur machen durfte, weil er sich offen zum Christentum bekannte“, sagt William nach dem Austausch mit Dieter Wendland. „Ich empfinde Dankbarkeit, dass das heute anders ist. Aber auch Sorge, dass es nicht unbedingt so bleiben muss“, so der 24-Jährige.

 

An Tisch 1, den Anna Antonova als „lebendiges Buch“ bestreitet, geht es um die Bedeutung, die der jüdische Jugendclub für sie hat. Nach sieben Jahren in einem Provisorium in der Werner-Seelenbinder-Straße ist der Jugendclub, den Anna Antonova als 17-Jährige mit initiiert hat, gerade ins neue Synagogenzentrum umgezogen. Rund 30 Kinder und Jugendliche treffen sich dort einmal im Monat, um zu spielen, zu basteln, zu diskutieren, zu beten – in der „Light-Version“, wie Anna Antonova lachend sagt.

 

Ausleihtafel in der "Lebendigen Bibliothek"

Ausleihtafel in der „Lebendigen Bibliothek“

 

Ob dort auch politische Themen besprochen werden, will ein Teilnehmer wissen. „Es geht vor allem um die Gemeinschaft, um einen Zugang zur Religion, darum, nicht zu vergessen, wo man herkommt“, sagt die angehende Lehrerin und ergänzt: „Es gibt so viele traurige Geschichten über Jüdinnen und Juden. Wir wollen uns im Jugendclub auf das Positive konzentrieren.“

 

Intensiver Austausch in sieben Lesenischen

 

An einem weiteren Tisch erzählt Daniel-Jdan Koljada von seinen Erlebnissen als Kind eines russisch-orthodoxen Priesters, der 1986 aus der Sowjetunion in die DDR strafversetzt worden war. Marie-Luise Schalinski berichtet von ihren Erfahrungen, die sie in einem evangelischen Pfarrhaus in direkter Nachbarschaft zur „Verbotenen Stadt“ machte, dem „Militärstädtchen Nr. 7“, das der sowjetische Geheimdienst KGB in Potsdam fast 50 Jahre lang unterhielt. Zudem ist die Buddhistin Hai Bluhm zu Gast sowie die Zeugin Jehovas Gisela Ryll.

 

Hai Bluhm (links) in der "Lebendigen Bibliothek"

Hai Bluhm (links) berichtet über ihre Erfahrungen als Buddhistin in Potsdam

 

Martin Vogel schildert, wie die Treffen in der Jungen Gemeinde ihm in seiner Jugend in der DDR Halt gaben und Raum, kritische Fragen zu stellen. „Auch für mich ist dieser Abend sehr spannend“, sagt er. „In der ersten Runde habe ich mich vor allem mit älteren Menschen unterhalten. Wir haben unsere Erfahrungen in verschiedenen Phasen der DDR-Diktatur verglichen.“ In der zweiten Runde seien junge Menschen an seinem Tisch zu Gast gewesen. „Hier ging es um die Vorteile einer Demokratie, aber auch darum, dass das Label ‚Demokratie‘ wenig nützt, wenn bestimmte Dinge nicht funktionieren, etwa zeitnah einen Arzttermin zu erhalten oder bezahlbaren Wohnraum zu finden.“

 

Hana Hlásková, Bildungsreferentin der Stiftung Garnisonkirche Potsdam und Veranstalterin, sowie die pädagogische Projektmitarbeiterin Hannah Liedtke sind mit der ersten Ausgabe der „Lebendigen Bibliothek“ sehr zufrieden. Hana Hlásková: „Die Menschen sind intensiv in den Austausch gegangen, das war meine Absicht und freut mich sehr.“ Eine weitere Veranstaltung ist in Vorbereitung.

 


Die „Lebendige Bibliothek“ fand am 23. September im Rahmen der Interkulturellen Woche 2024 statt. Sie wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Rahmen des Bildungsprojektes „Religionsfreiheit unter Druck“.