Ein ganz besonderes Turm-Gemälde

Maler Wolfgang Liebert mit Turm-Bild. Foto: Peter-Michael Bauers

Der Potsdamer Maler Wolfgang Liebert wohnt gegenüber der Garnisonkirche. Er hat den Wiederaufbau auf außergewöhnliche Weise mit Pinsel und Farbe festgehalten. Ein Atelierbesuch.

 

Ein ungewöhnliches Bild schmückt seit Neuestem die Nagelkreuzkapelle. Darauf zu sehen: der Turm der Garnisonkirche, so wie ihn der Potsdamer Maler Wolfgang Liebert aus seinem Atelier an der Breiten Straße sieht. Doch zeigt das Bild noch viel mehr, wie der Künstler verrät.

 

Seit Juli steht es in der Nagelkreuzkapelle, zwischen dem Flügel und der Vitrine mit dem alten Taufbuch. Schmucklos, ohne Rahmen, auf einer Staffelei, als hätte der Künstler gerade erst den letzten Pinselstrich gezogen. Die Farben auf dem Bild glänzen frisch, der Untergrund schimmert, als wäre die Leinwand noch nicht trocken. Ist der Maler womöglich noch im Prozess, das Bild noch gar nicht fertig?

 

Es ist ein Gedanke, der schnell verfliegt. Zu detailreich, zu perfekt komponiert ist das Gemälde. Das Bild ist vollendet – anders als das Objekt, das es zeigt. Es ist der Turm der Garnisonkirche, wie er sich im Frühjahr 2023 präsentierte: eingerüstet bis obenhin, mit flatternden Plastikplanen und massivem Bauzaun. Noch ohne Turmhaube ragt er in den Himmel, eingerahmt von Rechenzentrum, Breiter Straße und Studentenwohnheim.

 

Für Wolfgang Liebert war es der ideale Moment, um den Turm zu malen. „Mein Bild zeigt die Metamorphose, die die Garnisonkirche durchmacht“, sagt der Künstler. „Vieles ist noch verhüllt, nur in Teilen sichtbar, noch nicht entschieden. Das finde ich spannend und interessant.“

 

Für den Maler war der Turm immer schon da

 

Wolfgang Liebert, 79, ist Maler. Er wohnt und arbeitet im Hillerbrandtschen Haus an der Breiten Straße / Ecke Dortustraße. Zwei Gefäße mit Pinseln stehen auf dem Sims des Fensters, durch das er den Turm der Garnisonkirche tagaus, tagein wachsen sieht. Er sieht, wie die Morgenröte die Fassade glänzen lasst und die Abendsonne den Turm in glutrotes Licht taucht, wie Menschen staunend an der Baustelle stehenbleiben, andere gegen den Wiederaufbau protestieren, und wie unzählige Autos Tag und Nacht vorbeibrausen. Für Liebert war der Turm immer schon da – und Gegenstand seines künstlerischen Schaffens. 1963 zeichnete er die kriegsbeschädigte, aber noch nicht gesprengte Garnisonkirche zum ersten Mal, während seiner Facharbeiterlehre als Baumaler am Potsdamer Bauhof.

 

Damals wusste Liebert schon, dass die Kunst seine Profession werden würde. Im Alter von zwölf Jahren besuchte seine Mutter mit ihm die Nationalgalerie in Berlin, und er war in den Bann gezogen von der Welt, die sich ihm dort eröffnete. „Ich fing an, Zeichnungen und Gemälde der Alten Meister zu kopieren, von Kalenderblättern und Postkarten“, erzählt Liebert.

 

Weil das Geld knapp war, sammelte er Flaschen und Papier und kaufte sich vom Erlös Pinsel und Farben. Er zimmerte sich Keilrahmen und bezog sie mit alten Vorhängen, die ihm als Leinwand dienten. Das war in den 1950er Jahren, als viele DDR-Bürger in die BRD zogen und ihr Hab und Gut – Möbel, Porzellan und eben auch Vorhänge – einfach am Straßenrand zurückließen.

 

In der Helmholtz-Oberschule entdeckte die Kunstlehrerin sein Talent

 

Liebert wohnte mit seiner Mutter zu dieser Zeit in der Berliner Vorstadt. 1944 war die damals 23-Jährige mit dem sechs Monate alten Wolfgang aus der Heimat Posen in die Ostprignitz geflüchtet und 1949 nach Potsdam umgesiedelt. Liebert besuchte die Eisenhart-Grundschule und später die Helmholtz-Oberschule. Dort erfuhr er behutsame Förderung durch die Kunstlehrerin Suse Ahlgrimm. 1963 lernte er im Caputher Malzirkel den expressionistischen Maler Magnus Zeller kennen, der Liebert in seinem künstlerischen Schaffen ermutigte.

 

1964 begann Liebert sein Studium der Malerei und Grafik an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, das er mit einem Diplom in Malerei abschloss. Als Meisterschüler und Assistent an der Kunsthochschule wirkte er an der Neugestaltung des Berliner Stadtzentrums mit, er gab sein Wissen als Leiter einer Förderklasse und als Fachhochschullehrer in Potsdam weiter und widmete sich zugleich seiner ganz eigenen Kunst als freischaffender Maler und Grafiker.

 

Veränderungen sind sein Thema

 

„In Potsdam hat mich immer die Architektur besonders interessiert“, sagt Liebert. Auf seinen Bildern stellt er sie im Wandel der Jahreszeiten dar, etwa die Friedenskirche im Frühling oder den Jüdischen Friedhof auf dem Pfingstberg an einem verschneiten Wintertag. Und er hält die menschengemachten, gesellschaftlich bedingten Veränderungen fest, zum Beispiel den Verfall und die Rekonstruktion des Holländischen Viertels. Es ist der Umbruch, die Wende, die ihn auch am Motiv der Garnisonkirche reizt: dass hier ein Gebäude, dessen Geschichte von Königen, Pfarrern, Militärs, Nationalsozialisten und dem SED-Regime geprägt wurde und das er zunächst als Kriegsruine kennengelernt hat, nun als Forum für Demokratie und Frieden wieder aufersteht. „Ich wünsche mir, dass die Metamorphose gelingt und der Turm zu einem Friedenssymbol wird. Zu einem Ort des Ideenaustauschs und der Verständigung“, sagt Liebert.

 

Der künstlerische Drang, den Wandel malerisch einzufangen, speist sich dabei auch aus einer tiefen Sehnsucht: Momente festzuhalten, bevor sie vergehen. Das liegt auch in Lieberts Biografie begründet, die von Flucht, Entbehrungen in der Nachkriegs-Kindheit, dem Zusammenbruch des DDR-Staates und den damit zusammenhängenden Unsicherheiten und Verlustängsten geprägt ist. Beim Malen findet seine Seele Ruhe. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich beim Malen geführt werde“, sagt er lächelnd. „Dann empfinde ich Liebe, und ich weiß, dass ich etwas Bleibendes schaffe.“

 

Über dem Turm schwebt eine geheimnisvolle Wolke

 

Für sein Bild des Garnisonkirchturms hat Liebert das Morgenlicht gewählt. Er begann im Januar 2023, arbeitete intensiv jeden Tag an dem Gemälde. Zunächst zeichnete er den eingerüsteten Turm auf Transparentpapier, übertrug die Zeichnung dann auf Leinwand und malte schließlich mit einer Mischtechnik aus Acryl- und Ölfarben. Den Verkehr auf der Breiten Straße sparte Liebert bewusst aus, „damit der Turm ein großes Gewicht bekommt“. Am Bauzaun leuchten blau die Bilder des Kunstprojekts „St. Javelin“, für das die Künstlerin Julia Krahn aus der Ukraine geflüchtete Frauen porträtierte. Bis Mitte April waren sie am Garnisonkirchturm zu sehen und inspirierten Liebert zusätzlich, genau zu diesem Zeitpunkt zum Pinsel zu greifen und den Friedensappell weiterzutragen.

 

Blau ist auch der Himmel, in den der Turm hineinragt. Über ihm schwebt eine große weiße Wolke – auf einer zweiten Leinwand, die der Künstler über sein hochformatiges Werk montiert hat. Der Bruch, Lieberts Lebens- und Schaffensthema, ist auch hier deutlich zu sehen – genauso wie die Spannung, die ihm innewohnt. „Ich habe auf mein Gemälde noch etwas draufgesetzt, genauso, wie auf den Turm noch etwas draufgesetzt wird“, erläutert der Künstler seine Idee.

 

Wer Wolfgang Liebert kennt, der weiß, dass er damit nicht nur die Turmhaube meint, sondern auch die Menschen, ihre Gedanken und ihre Impulse, mit denen der Turm sich füllen wird, die aus ihm herausgetragen werden und durch die der Turm zu einem bedeutsamen Raum in der Stadt wachsen soll.

Viele sollen sein Gemälde sehen

 

Mit großer Freude hat Liebert sein Turm-Gemälde der Stiftung Garnisonkirche geschenkt. „Wenn ich das Bild verkaufen würde, verschwindet es in einer Privatwohnung“, sagt er. Lieber möchte er, dass es ausgestellt und von vielen Besucherinnen und Besuchern betrachtet wird. So lange, bis das Baugerüst vollständig verschwunden ist und die Turmhaube die Wolke abgelöst hat. Und noch lange darüber hinaus. Als Blick zurück – und als Blick auf den Wert des Wandels.

 

Text: Beatrix Fricke