Der Fotograf Lutz Hannemann kletterte in den 50 Jahren seines Berufslebens überall hinauf, wo ihn gute Fernsicht erwartete – zum Beispiel auf die Garnisonkirche
Technisch leben Fotoprofis heute in einer bipolaren Welt. Sie schwören entweder auf ihre Canon oder auf ihre Nikon. Andere Hersteller haben auch tolle Kameras, bleiben aber Exoten. Der Fotograf, der an diesem Vormittag in Lutz Hannemanns Babelsberger Wohnung ein Porträtfoto von dem 68-Jährigen machen will, ist ein Canon-Mann. Lutz Hannemann selbst, der bald sein 50-jähriges Berufsjubiläum feiert, ist ein Nikon-Mann. Wohin das Pendel ausschlägt, Canon oder Nikon, ist, da sind sich die beiden Fotografen einig, keine Charakterfrage, sondern der Magie des ersten Augenblicks geschuldet. Im Fotofachgeschäft fiel Hannemanns Blick auf eine Nikon F4 und der Händler sagte: „Nimm sie mit, probier sie übers Wochenende aus“ – und schon war Hannemann ein Nikon-Mann.
Doch die schweren Profikameras bereiten dem Altmeister zunehmend Probleme. In jungen Jahren wuchtete er bei der BSG Aufbau Potsdam auf Leistungssportniveau Gewichte in die Höhe, nun knackt es gewaltig in den Schultern und Hannemann will es deshalb nun mit kleineren, leichteren Apparaten versuchen. Vor ihm auf dem Tisch liegt so ein kaum 150 Gramm schwerer Alleskönner, von dem Hannemann sagt: „Die Qualität ist erschreckend gut.“
Von 1961 bis 1963 lernte Hannemann bei Elsa Mielke, die ihren Fotoladen am Luisenplatz betrieb. Die Chefin, erinnert er sich, nahm gern kräftige Jungs in die Lehre, denn Fotograf sein hieß damals auch, schwere Säcke voll mit Fotochemikalien in den Keller schleppen. Die Berufsbezeichnung Fotograf darf Lutz Hannemann seit dem 1. September 1963 tragen, doch wichtig ist ihm ein anderes Datum: der 1. Januar 1964. Da fing Hannemann 18-jährig als Fotograf beim Geodätischen Institut Potsdam an, später Zentralinstitut für Physik der Erde, heute ist es das Geoforschungszentrum (GFZ). Schon das Eignungsgespräch zeigt, dass der junge Mann nicht auf den Kopf gefallen ist. Der stellvertretende Leiter der geodätischen Astronomie fragte mehrmals zu verschiedenen Sachgebieten „Herr Hannemann, können Sie das?“ und Hannemann nickte jeweils selbstbewusst. Gleich nach dem Gespräch notierte er sich die Begriffe, die er vorher noch nie gehört hatte, ging in die Hochschulbibliothek und schlug sie nach.
Sein Arbeitsalltag unterscheidet sich sehr von dem eines Passbildfotografen. Hannemann fotografierte sogar in einem Salzbergwerk in 600 Meter Tiefe. Viele Forschungen sind mit fotografisch-technischen Kenntnissen verbunden, die Hannemann beisteuert. Einmal unternehmen sie eine sogenannte Ballon-Triangulation, eine geodätische Dreiecksmessung von Abständen mittels Blitzlicht-Patronen, die an Ballons in die Höhe aufsteigen. Hannemann hat es mächtig blitzen lassen: Eine Zeitung aus dem sächsischen Testgebiet titelte: „UFOs über Dresden?“
Manches in seinem Fotografen-Leben hatte eine politische Dimension. Das erfuhr er schon mit 15 Jahren, als sie in der Schule eine Wandzeitung über Potsdam machen wollten und der Junge erklärte, er werde die Fotos beisteuern. Mit alterstypischer Arglosigkeit fuhr der Schüler zur Glienicker Brücke und fotografierte sie: „Die Glienicker Brücke gehört ja schließlich zu Potsdam“ – aber nur bis zur Mitte, wo sich die scharf bewachte DDR-Staatsgrenze befand. Plötzlich sah er, dass ein Polizei-Lkw angerast kam und er dachte: „Toll, hier ist ’was los, vielleicht kann ich etwas Spannendes fotografieren“.
Heute kann der Mann darüber lachen: „Das Spannende war ich selbst.“ Drei Mann sprangen von dem Laster, einer nahm ihm die Kamera weg, eine Praktica aus der Schule, einer warf Hannemanns Fahrrad auf die Ladefläche und einer hielt ihn fest. Der Junge wird verhaftet und in der Bauhofstraße mehrere Stunden lang verhört. „Vater ist bei der Feuerwehr“, fleht er, die gehörte damals zur Polizei. „Nach fünf Stunden hat er mich dann da rausgeholt“, so Hannemann. Den Film bekam er entwickelt zurück – ohne die Fotos von der Glienicker Brücke.
Nach der Institutszeit wurde Hannemann Luftbildfotograf. Der Sohn eines Feuerwehrmannes wollte immer hoch hinaus, er kletterte auf alles, was gute Fernsicht versprach. Sein Berufsmotto: „Sehen für andere“. Zuletzt überraschte er mit der erstmaligen Veröffentlichung seiner Fotos, die er bei seinem waghalsigen Aufstieg auf den im Krieg schwer beschädigten Turm der Garnisonkirche 1968 schoss, wenige Wochen vor der Sprengung. Doch damals war er Anfang 20, als er die morschen Leitern der innen hohlen Turmruine erklomm; da war er ein kerngesunder Gewichtheber, der sich leicht an jeder Mauer hochziehen kann. Doch wie ist es, wenn der 50. Geburtstag naht? „Da sagte ich mir, jetzt willst du es noch einmal wissen!“ Hannemann bestieg einen 72 Meter hohen Schornstein, der an seiner Spitze mit einer Amplitude von etwa einem Meter schwankt. Vorher lieh er sich einen Hakengurt und sagte: „Seht mal nach einer Stunde nach, ob ich da festhänge“. Aber alles ging gut.
Heute, sagt der 68-Jährige, „mache ich weniger, aber immer mit dem Herzblut von früher“. Sein Leben sei nahtlos verlaufen, „prima“. Und doch gibt es ein anderes Leben, das er nicht führen konnte: Er, der in seinem Institut einmal aus einem Pilotenhelm einen Doktorhut für den Kosmonauten Sigmund Jähn baute, hätte selbst gern studiert. Arzt wäre er gern geworden, „doch so war das früher, in den Familien durfte oft nur einer das Abitur machen“, in seinem Fall war es sein Bruder. Den Traum vom Studium haben seine beiden Töchter verwirklicht „und darauf ist Papa ein wenig stolz“, sagt Hannemann, der mit seiner Frau Marlene seit 1969 verheiratet ist. Jener Marlene, die bei seinem Aufstieg auf die Garnisonkirche unten sehnsüchtig auf seine Rückkehr wartete. (Potsdamer Neueste Nachrichten, 10.12.2013, von Guido Berg)
Der Fotograf Lutz Hannemann bestieg am 1. Mai 1968 den Turm der Potsdamer Garnisonkirche, wenige Wochen vor dessen Sprengung. Es entstanden einzigartige Aufnahmen des Turmes, aber auch beeindruckende Stadtansichten. Am heutigen Dienstag wird Lutz Hannemann diese Aufnahmen in einem Bildervortrag ab 19 Uhr in der Kapelle an der Garnisonkirche, Breite Straße 7, zeigen und erläutern. Interessierte können zudem den mit den Potsdamer Neuesten Nachrichten herausgegebenen Kalender „Garnisonkirche von Potsdam 2014“ erwerben, der die bei dem waghalsigen Turmaufstieg entstandenen Aufnahmen von Lutz Hannemann zeigt. Der Kalender ist in limitierter Auflage von 500 Exemplaren erschienen und für 19,90 Euro erhältlich – in der Kapelle an der Garnisonkirche sowie im PNN-Shop im Karstadt-Kaufhaus. PNN