Als sei es erst gestern passiert, so gut kann Hartmut Knitter sich noch an jenen Sommer erinnern. Am 23. Juli 1944 feierte er seinen zehnten Geburtstag. Doch dieses sonst so bedeutende Ereignis im Leben eines Jungen wurde von einem anderen überschattet. „Nach dem Hitler-Attentat am 20. Juli verstand ich die Welt nicht mehr“, erinnert sich Knitter, dessen Schulzeit natürlich von NS-Propaganda durchtränkt war, an seine Ungläubigkeit: „Wie konnten deutsche Offiziere dem Führer etwas antun wollen?“ Als er seinem Vater diese Frage stellte, meinte dieser nur: „Das ist eine komplizierte Angelegenheit.“
Erst später verstand er diesen Satz. 1947 bekam er eine Ausgabe der Zeitschrift „Nordwestdeutsche Hefte“ in die Hand: ein Artikel; daneben ein Konterfei des Attentäters Claus Schenk von Stauffenberg. Eine einfache Zeichnung nur. Doch Knitter – jahrzehntelang Leiter der historischen Abteilung im Potsdam-Museum – hat diese Zeichnung seit damals gehütet, auch wenn die Zeitschrift selbst längst zerfleddert ist. Behutsam streicht er über ihre vergilbten Seiten und schüttelt den Kopf: Nein, die Bilder, die das Kinoepos „Operation Walküre“ nun von Stauffenberg zeichnet, hat er noch nicht gesehen. Doch das, was der Historiker zu erzählen weiß, würde ebenfalls Filmstoff für eine Dokumentation bieten. Titel: „Potsdam und der 20. Juli 1944“.
Dem gebürtigen Schwaben Stauffenberg war die ehemalige Preußenresidenz seit 1930 vertraut, als der 23-jährige, frisch verlobte Fähnrich kurzzeitig an der Havel weilte: „Weil er zu einem Minenwerferlehrgang abkommandiert wurde, konnte er seine Verlobung gar nicht richtig feiern“, erzählt Knitter. Schauplatz war die „Gardes du Corps-Kaserne“ an der Gotischen Bibliothek am Heiligen See. Auch kurz vor dem Attentat machte Stauffenberg einen Abstecher zu den Potsdamer Kameraden. Diesmal zog es ihn zur Panzertruppenschule in den Krampnitzer Kasernen, wo auch Military-Reiten betrieben wurde. Dort ließ es sich Stauffenberg – ursprünglich Kavallerist – nicht nehmen, nochmal in den Sattel zu steigen. Für Knitter eine berührende Vorstellung: „Er besaß ja nur noch drei Finger, mit denen er die Zügel halten musste.“ Doch Stauffenberg ließ die Zügel nie schleifen – auch nicht in Sachen Kontaktpflege. Etliche Male besuchte er Potsdam zu Treffen mit ähnlich Gesinnten, wobei ihn sein Weg unter anderem ins heutige Stadthaus führte. Hier befand sich die Dienstwohnung des Regierungspräsidenten und Reichskanzler-Enkels Gottfried von Bismarck-Schönhausen, der mit den Widerständlern sympathisierte.
Auch andere Träger klingender nationalkonservativer Namen – etwa Ulrich von Schwerin von Schwanenfeld, der Vater des nachmaligen Potsdamer Polizeipräsidenten Detlef von Schwerin – empfanden nach jahrelanger Nazi-Herrschaft nur noch Abscheu für das Regime. Und so spann sich ein zusehends dichteres Netz kritischer Geister. Potsdam, betont Knitter, sei zwar nicht die zentrale Hochburg des Widerstands gewesen. Aber doch eine sichere Fluchtburg im Vergleich zum bombengeplagten Berlin.
Wobei bisweilen nicht einmal die nächsten Angehörigen etwas vom Ausmaß der Aktivitäten ahnten. „Wir wussten nichts“, bekannte etwa die Tochter von Fritz von der Lancken. Der Oberstleutnant hatte im Arbeitszimmer seiner „Löwenvilla“ in der heutigen Gregor-Mendel-Straße den Sprengstoff für Stauffenbergs Attentat verborgen. Während der vornehme Bau immerhin beim „Walküre“-Dreh zu filmischen Ehren kam, findet von der Lancken selbst dort nicht weiter groß Erwähnung.
Anders liegt der Fall bei Albrecht Mertz von Quirnheim, dem im Cruise-Epos seine tragende Rolle zugebilligt wird. Quirnheim war als Stabschef im Berliner Bendlerblock maßgeblich daran beteiligt, dass der Operationsplan „Walküre“ überhaupt in Gang gesetzt wurde. Während er im Film etwas machomäßig mit windschnittig-kahlrasiertem Heldenschädel daherkommt, wirkt er auf Fotos fast wie ein durchgeistigter Lateinprofessor. Tatsächlich war Quirnheims Vater immerhin der erste Präsident des Reichsarchivs auf dem Brauhausberg – dem heutigen Landtag. Der Sohn besuchte das Viktoria-Gymnasium (heute: Helmholtz), ehe er die Offizierslaufbahn wählte. Am Abend des 20. Juli wurde Quirnheim mit Stauffenberg im Bendlerblock erschossen. So wie den meisten Verschwörern verweigerte man ihm die letzte Gnade eines Grabes. Was mit seinem Leichnam geschah – ein Rätsel. Weshalb heute nur eine Gedenkplatte am Urnengrab seiner Eltern auf dem Neuen Friedhof an ihn erinnert.
Am Bornstedter Friedhof wiederum kündet eine Tafel von einem der führenden Köpfe des Widerstands: Generalmajor Henning von Tresckow, der sich einen Tag nach dem misslungenen Attentat das Leben nahm. Bereits 1938 hatte er erkannt: „Hitler ist ein tanzender Derwisch – man muss ihn totschießen.“ Als seine eigenen Attentatsversuche alle an widrigen Umständen gescheitert waren und er zudem an die Ostfront versetzt wurde, bestärkte er Stauffenberg in dessen Plan.
Lichtjahre entfernt schienen da schon die unbeschwerten Tage auf Schloss Lindstedt, dem Heim von Tresckows nachmaliger Frau. Mitte der 20er-Jahre war es Schauplatz eines tollen Auftritts gewesen: „Von dem vorgebauten Säulengang sprang mein Großvater Henning v. Tresckow herunter, um meiner Großmutter Erika v. Falkenhayn einen Heiratsantrag zu machen“, schrieb eine Enkelin über den Beginn der Ehe, die so tragisch endete. Erika stand unerschütterlich zu den Plänen ihres Mannes. Auf ihrer Schreibmaschine tippte sie, verborgen im Wald, die Befehle für die „Operation Walküre“.
Ein Hort des Widerstands war das Infanterie-Regiment 9, dessen ehemalige Hauptkaserne nun das Infrastrukturministerium beherbergt. Auch Tresckow hatte hier gedient. Eine seiner wechselnden Wohnungen lag direkt neben der Garnisonkirche. Als 1943 dort die Konfirmation der beiden Söhne gefeiert wurde, klang seine anschließende Festrede wie ein Schwur: „Vom wahren Preußentum ist der Begriff der Freiheit niemals zu trennen.“
Im Infrastrukturministerium in der Henning-von-Tresckow-Straße erinnert heute eine Ausstellung an Potsdams Widerständler. Hartmut Knitter hat sie mitgestaltet. Seine Augen leuchten, wenn er von einem ganz besonderen Gast erzählt: Konstanze von Schulthess, geborene von Stauffenberg. Ihre Geschichte ist eine sehr bewegende. Ihre schwangere Mutter wurde nach der Ermordung des Vaters ins KZ Ravensbrück gebracht. Nach der Entbindung in Frankfurt (Oder) und einem chaotischen Gefangenentransport konnte die kleine Konstanze endlich in der katholischen Sankt-Josefs-Kapelle in Potsdam getauft werden.
Im vergangenen Jahr besuchte die mittlerweile 63-Jährige die Stadt. Dabei erzählte die elegante Dame auch von ihrem Sohn Christoph: Der dunkelhaarige Schauspieler – zu erleben etwa in „Operation Walküre“ als Tresckows Adjutant – sei seinem berühmten Großvater wie aus dem Gesicht geschnitten. Besonders deutlich wurde das, als man Frau von Schulthess ein Erinnerungsstück überreichte – die Kopie jener Zeichnung, die Hartmut Knitter nun schon seit so vielen Jahren hütet.
Die Gedenkstätte, Henning-von-Tresckow-Str. 2-8, kann zu den Öffnungszeiten des Ministeriums besucht werden. (Von Ildiko Röd)