Der Philosoph Ernst Bloch hat einmal auf die Frage, was „Heimat“ sei, geantwortet: „Da, wo noch niemand gewesen ist und was doch allen in die Kindheit scheint“. Kindheitsbilder spielten beim Leipziger und später Tübinger Professor eine hintergründige Rolle. Ganz im Mittelpunkt der kindlichen Eindrücke stand der Abend „Literatur und Musik“ in der Potsdamer Nagelkreuzkapelle. Der bis 2014 amtierende Landtagspräsident Gunter Fritsch hatte die Zuhörenden gemeinsam mit Pfarrerin Cornelia Radeke-Engst begrüßt: Eine der Vorleserinnen habe kürzlich das Bundesverdienstkreuz am Bande für die Sorge um brandenburgische Kirchen erhalten, sagte er. Etwa 20 Jahre lang habe sie sich um den Dorfkirchensommer im Land gekümmert. Der langjährige Parlamentschef überreichte einen Blumenstrauß an Antje Leschonski.
Die Autorin las einen Text aus dem Bändchen „Der Trommler von Gröben“, in dem Legenden und Geschichten aus märkischen Dorfkirchen aufgezeichnet sind. Der „Wunderknabe von Kehrberg“ machte wohl um 1736 Furore, als täglich 300-400 Kranke das Kind aufsuchten, um allein durch seine Berührung Heilung von Gebrechen aller Art zu erfahren. Doch der wundersame Junge eines Schmieds hielt dem Druck seines Erfolges nicht lange stand. 1736 starb er im Alter von fünf Jahren.
Ganz in der Gegenwart des 20. Jahrhunderts bewegte sich Klaus Büstrin. In seinem autobiographischen Text „Über die Stalinallee zur Pfaueninsel“ schilderte er wie seine Mutter in den 50er Jahren Zeitungen austrägt und für das Auskommen im sozialistischen Alltag immer mal wieder über die Glienicker Brücke „zu den bösen Kapitalisten“ nach West-Berlin fährt, um ein amerikanisches Care-Paket heimzubringen. Die Brücke hieß damals „Brücke der Einheit“ und die Straße durch Potsdam dorthin „Stalinallee“. Der Neunjährige erlebt Kindheitsbilder (so auch der Titel des Begleitbuches zu einer Fotoausstellung) zwischen Volkspolizisten und westlichen Konsumversuchungen, bei denen die evangelische Kirche eine unübersehbare Rolle spielt. Denn der Junge verschmäht die Jugendweihe und lässt sich konfirmieren. Der Pianist Wilhelm Kempff eröffnet ihm den Zugang zur Musik, sodass er als 13-Jähriger im Kirchenchor mitsingt.
Dass Radeke-Engst sich selbst Kindheitstagen schreibend nähert, zeigte sie mit einem Blick auf die Biographie Vicco von Bülows. Loriot wusste sich zeitlebens der Stadt Brandenburg eng verbunden. Seine Welt war geprägt von heute antiquiert erscheinenden Regeln, von preußischer Selbstbeherrschung und dem Gebot, dass Männer sich nicht küssen. Mit Humor bewältigt Loriot das.
Das Publikum ließ sich gerne von der Pfarrerin und Frau Leschonski weitere Geschichten vorlesen: Von Schriftstellerin Eva Zeller und der Redakteurin des Rundfunks Berlin-Brandenburgs (RBB), Nadja Luer. Kindheit verbindet sich für fast alle Menschen auch mit Musikerlebnissen. Am Leseabend in der Nagelkreuzkapelle am Standort der Garnisonkirche trug Brigitte Breitkreuz mit ihrer Gitarre dazu Zwischenspiele bei, die die literarischen Texte nicht besser hätten untermalen können.
Roger Töpelmann