In dieser Nacht hat Horst Goltz kein Auge zugemacht. Was er erlebte in den Stunden vom späten Abend des 14. April bis zum 15. April 1945, als er atemlos durch ein Potsdam in Flammen lief, das beschäftigt ihn bis heute. Haarklein hat er Ereignisse noch am 15. April in einem Bericht festgehalten. So wie er auch vorher und nachher penibel Tagebuch führte über jeden Fliegeralarm, jeden Angriff, jedes zerstörte Haus, jedes über dem Stadtgebiet abgestürzte Flugzeug. „Ich habe alles aufgeschrieben, was ich gesehen habe“, sagt der 83-Jährige. Was den Halbwüchsigen seinerzeit dazu bewegte? „Das frage ich mich heute manchmal auch“, sagt Goltz. Auf dem Tisch in seinem Wohnzimmer in der Leiterstraße liegt ein gelber Plastik-Ordner. „2. Weltkrieg, Luftkrieg, Daten und Ereignisse“ steht darauf. Es ist der Versuch, Ordnung zu bringen in eine Zeit, in der ganz und gar nichts in der Ordnung war.
Mindestens zehn Aktenmappen füllt der Zweite Weltkrieg mittlerweile bei Horst Goltz – und da ist seine wertvolle Flugblattsammlung noch nicht einmal mitgerechnet. Zeitungsnotizen, Kopien aus Büchern und von Originaldokumenten aus Archiven, Anmerkungen zu Fernsehsendungen – jeder Hinweis auf die Bombenangriffe in Potsdam und in der Region landet in Goltz’ Privatarchiv.
Das letzte Blatt stammt erst vom Montag dieser Woche: die Evakuierungsankündigung wegen der Bombenentschärfung am Dienstag in der Templiner Vorstadt. Auch Goltz’ Reihenhaus war betroffen. Als er am nächsten Tag die Fotos in der Zeitung gesehen hat, wusste der studierte Biologe, der sein Leben lang beim Pflanzenschutzamt gearbeitet hat, sofort Bescheid. Die Bombe, die Mike Schwitzke vom Kampfmittelbeseitigungsdienst entschärfte, war vom selben Typ wie der Blindgänger, der am 15. April 1945 vor dem Küchenfenster von Goltz’ Elternhaus auf Hermannswerder lag. Damals allerdings wurden Sträflinge geholt, um die Fünf-Zentner-Sprengladung unschädlich zu machen, erinnert er sich.
Der 14. April 1945 war ein Samstag. Vom milden Frühlingswetter hatte Horst Goltz, der gerade 15 Jahre alt geworden war, jedoch nicht viel: Er war bei einer Art Intensivlehrgang der Hitlerjugend in der Villa Baumgart in der heutigen Friedrich-Ebert-Straßte. Im Schnelldurchlauf wurde den Jugendlichen dort das Morsealphabet beigebracht, sie lernten, wie man mit dem Feldfernsprecher umgeht oder Kabel legt. Was das alles zu bedeuten hatte, war Goltz nur zu klar: „Wir sollten im Volkssturm verheizt werden.“
Wie es wirklich stand um Hitler-Deutschland, das wusste Goltz aus den Flugblättern. Zwei Jahre lang schon hatte der Schüler heimlich den Wald rund um den Brauhausberg nach Zeitungsblättern mit Titeln wie „Nachrichten für die Truppe“ durchsucht – abgeworfen von britischen oder US-amerikanischen Fliegern. Mit den Flugblättern war es nicht wie mit den Flugzeug- oder Bombenteilen, die die Halbwüchsigen damals auf dem Schulhof vertickerten. Goltz versteckte die Papiere hinter einem Holzstoß im Schuppen. Das war ein Verbrechen, das er mit dem Leben hätte bezahlen können, wenn er entdeckt worden wäre. Goltz wusste das: Regelmäßig wurden Flugblätter öffentlich gesammelt und verbrannt. Angst hatte er trotzdem nicht. „Die Gefahr hat man als junger Mensch gar nicht so eingeschätzt“, sagt er. Trotzdem erzählte er selbst seinem besten Freund erst nach Kriegsende von der brisanten Sammlung.
Um 22.15 Uhr jaulten die Sirenen. Die 724 britischen Bomber mit Ziel Potsdam waren zu diesem Zeitpunkt über dem Raum Hannover/Braunschweig, wie der mittlerweile verstorbene Potsdamer Historiker Hans-Werner Mihan für sein Buch „Die Nacht von Potsdam“ recherchiert hat. Horst Goltz und die anderen Jungen konnten das nicht wissen. Sie suchten den öffentlichen Luftschutzkeller unter der Villa Baumgart auf. Als die Bombardierung 22.39 Uhr begann, war es totenstill im Keller. „Es hat so geschaukelt, als wenn man auf einem Hochseeschiff bei Sturm fährt“, erinnert sich Goltz. Nur 20 Minuten dauerte der Angriff, dann drehen die Flieger ab.
Die Hitlerjugend-Truppe wurde sofort auf Einsatz geschickt: Eine Telefonverbindung zwischen der Kreisleitung der NSDAP am Wilhelmplatz – dem heutigen Platz der Einheit – und dem Polizeipräsidium in der heutigen Henning-von-Tresckow-Straße sollten die Jugendlichen legen. „Wir sind mit der Trommel losmarschiert“, erzählt Goltz.
Die Mission scheiterte: „Wir sind bis zum Stadtkanal gekommen, die Innenstadt dahinter war ein Flammenmeer.“ Auf dem Wilhelmplatz hatten sich Potsdamer versammelt, die ihre Habseligkeiten vor dem Feuer retten wollten, Matratzen und Hausrat unter freiem Himmel deponieren, erinnert sich der 83-Jährige. Die Jungen brachen den Einsatz ab. Gemeinsam mit seinem Freund machte Horst Goltz sich auf den langen Heimweg nach Hermannswerder.
Erst im Morgengrauen des 15. April sollte er das Elternhaus erreichen. „Durch die Stadt kamen wir nicht, also sind wir zur Fähre“, erzählt er. Als er an der Neustädter Havelbucht war, wurde er Zeuge eines bewegenden Schauspiels: Die Glocken der Garnisonkirche läuteten zum letzen Mal. Das barocke Gotteshaus war zwar von den Bomben verschont worden, aber die Flammen vom benachbarten Langen Stall hatte auf den Turm übergegriffen. „Durch die Hitze läuteten die Glocken – dann stürzte der Turm zusammen“, erzählt Goltz: „Ein furchtbarer Anblick.“ Ironie des Schicksals: Auf den Flugblättern, die die Briten beim Bombenangriff über Potsdam streuten, wurde dem Garnisonkirchen-Organisten Otto Becker zum 75. Geburtstag gratuliert „Er läutete den Frieden ein“, stand da.
Beim Fähranleger auf dem Kiewitt die nächste Überraschung. „Der Steg war weggesprengt.“ Doch Fährmann Krüger war im Einsatz. Als die beiden Jungen fragten, wie er den Angriff überlebt hat, winkte der nur ab. Er habe sich flach auf den Boden gelegt. „Im frühen Morgen sind wir rübergefahren“, erzählt Goltz. Im Licht der brennenden Innenstadt waren Unmassen an toten Fischen auf der Havel zu sehen. „Der ganze See war voll.“
An Schlaf war nicht zu denken, als der 15-Jährige das Elternhaus erreichte. Wegen des Blindgängers vor dem Küchenfenster musste er gleich noch einmal in den Bunker, während die herbeigeholten Häftlinge die lebensgefährliche Entschärfung vornehmen mussten. Mit der Sprengladung jagten Volkssturm-Männer wenig später eine der drei Brücken nach Hermannswerder in die Luft – die Russen standen vor der Stadt.
Der nächste Gang an diesem Sonntagmorgen galt den Fischen, erzählt Goltz: Zwei Eimer voll schöpfte er für die elterliche Küche aus der Havel. Wo Rohstoffe und Lebensmittel knapp sind, weiß man sich zu helfen. Auch sein Konfirmationshemd verdankt Goltz dem Angriff: Gemeinsam mit einem Freund kletterte er in einen Baum, in dem sich eine am Fallschirm herabgeschwebte Leuchtbombe verfangen hatte – mit den Leuchtbomben war das Angriffsfeld markiert worden. „Mein Konfirmationshemd war aus Fallschirmseide“, sagt Goltz.
Es war gegen neun Uhr am Sonntag, als er zum „Rundgang“ aufbrach, wie Goltz es nennt. Ein Bild der Zerstörung bot sich ihm, als er Richtung Lange Brücke lief: „Nichts als Unglück, Elend und Trümmer“, notierte er in seinem Bericht. Am Hauptbahnhof ragten die zerfetzten Schienenstränge in den Himmel, die Lokomotiven standen Kopf, der riesige Kohlenhaufen für die Loks brannte lichterloh. Aus einem Splittergraben am heutigen Leipziger Dreieck, wo Zugreisende auf Unterschlupf gehofft hatten, wurden die Toten gezogen. Immerhin: Der große öffentliche Luftschutzbunker am Brauhausberg hatte den Angriff überstanden.
Die Geländer der Langen Brücke lagen im Wasser, die Innenstadt brannte noch immer. „Nur die Bittschriftenlinde ist sozusagen als Mahnmal stehen geblieben“, notierte Goltz. An den Trümmern des Palasthotels in der Humboldtstraße herrschte Geschäftigkeit, es wurde nach Überlebenden gegraben: Man hatte Klopfzeichen gehört. „Ob irgendwer gerettet werden kann, ist fraglich“, schrieb er auf.
Knapp die Hälfte der Innenstadt-Gebäude wurde in der Bombennacht zerstört, wie spätere Schätzungen ergaben. 1593 Potsdamer fanden aktuellen Erkenntnissen zufolge unter Trümmern oder in den Flammen den Tod. Auch etwa 200 ausländische Zwangsarbeiter starben bei dem Angriff, wie die Potsdamer Historikerin Almuth Püschel für ihr Buch „Zwangsarbeit in Potsdam“ recherchiert hat: Ende März hatte demnach ein Lastkahn mit den abgeschobenen Kranken am Havelufer Halt gemacht – die Stadtverwaltung hatte eine Hilfe für die Hungerleidenden aber verweigert.
Horst Goltz ahnte schon damals, dass die Bombennacht für ihn trotz oder gerade wegen der angerichteten Zerstörung auch ein Geschenk ist. „Ich habe den Engländern zu verdanken, dass ich überlebt habe“, sagt er heute. „Hätte es den Angriff nicht gegeben, wäre ich an die Front gekommen“, ist er überzeugt: „Für mich ist der Tag ein zweiter Geburtstag.“ Eine Selbstverständlichkeit auch, dass Goltz am Sonntag zum Gedenken in der Nikolaikirche geht: „So etwas lasse ich mir doch nicht entgehen“, sagt er und lächelt. (PNN vom 13.03.2013, von Jana Haase)