Warum darf die Potsdamer Garnisonkirche nicht wieder aufgebaut werden - weil sich auch dort
Schlimmes tat? Man soll nicht Gebäude für menschliches Versagen verantwortlich machen.
Muss man angesichts von Überlegungen,
die Potsdamer Garnisonskirche
wieder aufzubauen, besorgt sein? Matthias
Grünzig ist es offenbar und warnte
unter dem Titel "Kirchenspaltung, die
zweite" ausdrücklich davor (F.A.Z. vom
29. Oktober). Die Kirche sei eine Brutstätte
für schlimme Gedanken gewesen.
Dies belegt Grünzig mit Ereignissen, die
zwischen 1914 und 1945 in der Kirche
stattgefunden haben. Leider verwendet
er keinen Gedanken auf die Frage, wie
es zur selben Zeit um die demokratische
Substanz des Veranstaltungsprogramms
in anderen Kirchen stand.
Es ist kein Kunststück, aus dem heutigen
Deutungshorizont heraus eine Heldengedenkfeier
des Jahres 1925 als
demokratiefeindlich, antisemitisch und
gespenstisch zu bewerten. Doch es ist
leichtfertig, aus derartigen Veranstaltungen
zu schließen, der Ort sei "dermaßen
belastet", dass ein Wiederaufbau abgelehnt
werden müsse. Durch das Brandenburger
Tor in Berlin zog am 30.
Januar 1933 ein Fackelzug für Adolf
Hitler, der die Nachgeborenen erschauern
lässt; trotzdem ist dieses Gebäude
zum Symbol der Einheit in Freiheit
geworden. Im Berliner Dom hielt der
Reichsbischof Ludwig Müller
schreckenerregende Predigten; trotzdem
fand der erste deutsche Trauergottesdienst
für die Opfer des 11. September
2001 im wiederaufgebauten Dom
statt.
Die einen berufen sich auf die herausragende
architektonische Qualität der Garnisonkirche,
ein Werk des Barockarchitekten
Philipp Gerlach. Die anderen
belegen das Gebäude mit einem Bann,
der den Wiederaufbau unmöglich
machen soll. Wer dem zweiten Weg
folgt, unterwirft sich einem magischen
Denken, in dem Gebäude für menschliches
Versagen herhalten müssen. Neu
ist das nicht. Gerade in Potsdam hat es
Tradition, wie ein Beispiel aus dem Jahr
1951 belegt.
Am 1. August 1951 kommt es zu einem
symbolischen Auflauf mit starken
Requisiten. Durch die wenige Tage vor
Kriegsende in Schutt und Asche gelegte
Innenstadt Potsdams nähert sich ein Zug
junger Leute in Blauhemden der Havel.
Sie lassen einen schwarzen Sarg zu
Wasser. Auf ihm steht in großen Buchstaben:
"Hier ruhen die letzten Hoffnungen
der Kriegsbrandstifter auf einen
alten Geist von Potsdam". Der Sarg ist
mit Steinen gefüllt, damit er und mit
ihm die Vergangenheit möglichst
schnell versinkt und verschwindet. Die
FDJler wollen ein neues "freies
Deutschland".
Zum Leidwesen der FDJler versinkt der
Sarg aber nicht im Wasser. Er stellt sich
kerzengerade auf und segelt ein Stück.
Der "Geist von Potsdam" wolle partout
nicht untergehen, spottet der Volksmund.
Erst beim zweiten Versuch verschwindet
der mit noch mehr Steinen
beschwerte Sarg endlich in der Havel.
Eine Stadt versucht, ihre eigene Vergangenheit
zu ersäufen, als ließe sich die
Geschichte auf null stellen.
In Fortsetzung dieser Geisteshaltung
erklärt Walter Ulbricht 1967 bei einem
Rundgang durch Potsdam, dass die zwar
kriegszerstörte, aber wieder aufbaufähige
Garnisonkirche verschwinden
müsse. Damit war das Schicksal der
Kirche entschieden. Ihre Beseitigung
wurde ins Werk gesetzt. Mit der Sprengung
sollten faktisch mehr als 230 Jahre
Geschichte aus der Stadt getilgt werden.
Dagegen protestierten seit den sechziger
Jahren zahlreiche Potsdamer Bürger
und internationale Stimmen. In den vergangenen
Jahren haben sich viele Menschen
aus allen Teilen Deutschlands und
dem Ausland für den Wiederaufbau der
Garnisonkirche eingesetzt. Diese Unterstützung
gibt dem Wiederaufbaubestreben
Schwung. Zu Recht machen viele
geltend, dass dieses herausragende Bauwerk
des norddeutschen Barock für das
Stadtbild Potsdams unentbehrlich ist.
Doch es kann nicht darum gehen, einen
"alten Geist" wiederzubeleben. Es muss
sich um eine Kirche handeln, die dem
Evangelium Raum gibt und zu verantwortlichem
Handeln ermutigt.
Eine als Bürgerkirche wiedergewonnene
Garnisonkirche würde sicher nicht
zu einer Art Walhalla, angefüllt mit
Erinnerungsstücken aus Preußens militärischer
Tradition. Vielmehr kann hier
ein wichtiges Spannungsfeld entstehen,
in dem die Erinnerung an die Topographie
des Terrors und die Arbeit an einer
Topographie der Friedens- und Versöhnungsarbeit
ein geradezu magnetisches
Kraftfeld erzeugen. Die Potsdamer Garnisonkirche
wurde von Menschen und
Gruppierungen mehrfach als Symbol für
sehr einseitige Geschichtsdeutungen
missbraucht. Jeder dieser fatalen Deutungsversuche
hat versagt. Dadurch verweist
die Garnisonkirche auf die Zwiespältigkeit
menschlicher Existenz. Denn
die entscheidende Problemzone ist nicht
die Breite Straße in Potsdam, an der das
Gebäude wieder errichtet werden soll,
sondern die Fehlstelle im menschlichen
Herzen, das Gute und Böse zu kennen
meint und der eigenen Unergründlichkeit
und Zweideutigkeit ausweicht. Die
Garnisonkirche fordert dazu heraus, sich
dieser Ambivalenz zu stellen.
Richard von Weizsäcker hat diese Aufgabe
in seiner berühmten Rede vom 8.
Mai 1985 prägnant zur Sprache
gebracht: "Wir lernen aus unserer eigenen
Geschichte, wozu der Mensch fähig
ist. Deshalb dürfen wir uns nicht einbilden,
wir seien nun als Menschen anders
und besser geworden. Es gibt keine endgültig
errungene moralische Vollkommenheit
- für niemanden und kein Land!
Wir haben als Menschen gelernt, wir
bleiben als Menschen gefährdet. Aber
wir haben die Kraft, Gefährdungen
immer von neuem zu überwinden." In
diesem Sinn taugt diese Kirche als exponierter
Lernort deutscher Geschichte.
Es ist alle Anstrengung wert, die neu
erbaute Kirche in einer Konversion von
einer Militärkirche, in der auch Bürger
ihren Ort fanden, zu einer Bürgerkirche
werden zu lassen, in der Soldaten wie
Pazifisten ihren Ort finden können. Sie
kann sich so als eine Schule des Gewissens
für die Bürgerschaft Potsdams und
die Gäste dieser Stadt erweisen. Diese
Kirche kann verdeutlichen, was Jesus im
Matthäus-Evangelium im Gleichnis vom
Unkraut unter dem Weizen hellsichtig
angesprochen hat: Wer das Unkraut vor
der Ernte ausmerzen will, steht in der
Gefahr, den Weizen mit zu vernichten.
Wer das Gebäude, vor dem Hindenburg
und Hitler sich 1933 die Hände reichten,
aus dem Stadtplan getilgt wissen will,
verhindert zugleich die Erinnerung an
den militärischen Widerstand gegen Hitler
im Umfeld ebendieser Kirche. Henning
von Tresckows Frage, wie viele
Gerechte in einer Stadt sein müssen,
damit es einen Grund gibt, sie nicht der
Vernichtung preiszugeben, kann zu
einer der Leitfragen des Erinnerns werden.
Überlegungen zum Spannungsverhältnis
zwischen dem Recht des Stärkeren
und der Stärke des Rechts gehören
an den Ort, an dem sich die Wege von
Friedrich II., Zar Alexander und Napoleon
kreuzten. Die Frage nach dem Frieden
in einer von Gewalt durchwirkten
Welt sollte zukünftig gerade an diesem
Ort diskutiert werden.
Denjenigen, die meinen, dass eine Bronzetafel
reichen würde, um an die einst
hier stehende Kirche zu erinnern, sei die
Lektüre einer Legende empfohlen, die
sich in dem Roman "Der Tag zieht den
Jahrhundertweg" des kirgisischen
Autors Tschingis Aitmatow findet.
"Mankurt" nannten die Völker der kasachischen
Steppe jene Kriegsgefangenen,
denen man auf den rasierten Schädel
einen Helm aus blutig frischer Kamelhaut
klebte. Die Haut schrumpfte, und
unter schrecklichen Qualen wurde der
Mankurt zum willenlosen und gedächtnislosen
Sklaven. In Aitmatows Roman
versucht eine Mutter vergeblich, ihrem
Sohn Gedächtnis und Freiheitswillen
zurückzugeben. Auf Befehl seines
neuen Herrn tötet dieser schließlich
seine eigene Mutter. Das harte Bild sagt:
Wer keine selbständige Beziehung zur
eigenen Geschichte hat, lässt sich leicht
beeinflussen. Wer sich der Vergangenheit
nicht erinnert, wird manipulierbar.
Offene und faire Debatten über Herkunft,
gegenwärtiges Selbstverständnis
und Verantwortung für die Zukunft
bringen die Bürgergesellschaft voran.
Vonnöten sind Institutionen, Gebäude
und gesellschaftliche Initiativen, die
sich um der Zukunft willen kritisch mit
der Vergangenheit auseinandersetzen.
Sie können vor einem magischen Denken
bewahren, in dem Gebäude für
menschliches Versagen herhalten müssen.
Nur wenn wir eine solche Denkweise
überwinden, können wir uns an
die Geschichte erinnern, Verantwortung
lernen und Versöhnung leben.
MARTIN VOGEL
Der Autor ist als Oberkirchenrat der
Beauftragte der Evangelischen Kirchen
bei den Ländern Berlin und Brandenburg.
(Frankfurt Allgemeine Zeitung, 15.12.2014)