Geschichte beziehungsweise Geschichtsschreibung mutet oft an wie ein Schwarz-Weiß-Foto: hier helles Licht, dort dunkler Schatten. Viel Lob und Licht liegt zum Beispiel auf der Dresdner Frauenkirche, während die Potsdamer Garnisonkirche angeblich bruchlos allen dunklen Mächten Vorschub leistete (Preußen, Militarismus, Tag von Potsdam, Hitler). Dass in der Frauenkirche während des Krieges immer Hitlers „Mein Kampf“ wie eine Reliquie aufgeschlagen auf dem Altar lag, wird heute verdrängt. Genauso „unterbelichtet“ ist im Gegenzug immer noch der Umstand, dass es in der Gemeinde der Garnisonkirche Anhänger der hitlerkritischen Bekennenden Kirche gab. Zu den zentralen Figuren gehörte Pfarrer Rudolf Damrath.
Es kommt selten vor, dass Maria Luise Damrath öffentlich über ihren Vater erzählt. Sie hat zwar ein Kapitel in einem Buch über den Wiederaufbau der Garnisonkirche beigesteuert. Aber – und das verwundert einigermaßen – man hat sie noch nie zu einem Vortrag über ihren Vater nach Potsdam eingeladen. Dabei wohnt sie in Berlin-Wannsee. Nur eine kurze Autofahrt entfernt von den Plätzen ihrer Kindheit in der Priesterstraße, heute Henning-von-Tresckow-Straße, benannt nach einem der Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944. Der 20. Juli in Paris hatte als strahlender Tag begonnen und in der Nacht mit einem Desaster geendet. Über viele Stunden herrschte der Irrglaube, das Attentat auf Hitler sei geglückt. General von Stülpnagel, seit 1942 Militärbefehlshaber in Frankreich und Mitverschwörer, ließ die wichtigsten Funktionäre von SS, Sicherheitsdienst und Gestapo festnehmen. Ganz nah dran war der Garnisonkirchenpfarrer Rudolf Damrath. Als Wehrmachtsoberpfarrer hatte er die Dienstaufsicht für alle Pfarrer in Paris und im besetzten Frankreich und gehörte zu Stülpnagels Stab, war dessen Vertrauter.
In der Zeit unmittelbar vor dem Attentat versteckte er verklausulierte Hoffnungssignale in den Briefen an seine Frau: „Der Krieg ist bald zu Ende. Das soll genügen“, hieß es etwa in den fast täglichen Briefen. Als die Nachricht vom misslungenen Attentat kam, jagte sich Stülpnagel kurz nach seiner Verhaftung eine Kugel durch den Kopf. Er verlor sein Augenlicht, wurde nach Berlin transportiert und in Plötzensee gehenkt.
„Nein“, sagt Maria Luise Damrath, „ein aktiver Verschwörer war mein Vater nicht. Das hätte sich mit seinem Verständnis von den Aufgaben eines Pfarrers nicht vertragen. Aber er kannte viele der Verschwörer und Mitwisser des Attentats vom 20. Juli.“ Ihr Blick geht durch die Glasfront der Temporären Kapelle an der Breiten Straße hinüber zum IHK-Bau. Gleich dahinter liegt das Haus Nummer 10, wo heute die Polizei residiert und wo sie im März 1939 als zweite Tochter des Pfarrerehepaars geboren wurde.
Nur wenige Monate zuvor hatte sich ihr Vater dagegen verwahrt, die Fahnenweihe der Hitlerjugend in der Kirche abhalten zu lassen. Diese „ … fände aus technischen Gründen am besten im Lustgarten statt …“, heißt es im Protokoll. Als die Weihe letztlich doch in der Kirche durchgedrückt wurde, verbat sich Damrath ein Eindringen in den Altarbereich. Es blieb die letzte Fahnenweihe in der Kirche. Schon kurz nach der Machtergreifung 1933 organisierte Damrath eine große Kundgebung der „märkischen evangelischen männlichen Jugend der Kurmark“ im Potsdamer Lustgarten – massiv gestört von der HJ. „Damals war mein Vater noch Vikar in Wustermark. Besonders berührt hat ihn dort auch das Schicksal seines Vikarsvaters, der jüdischer Herkunft war“, erzählt die Tochter. Sie spricht klar, temperamentvoll. Die rote Jacke passt zu ihr. Voller Lebensfreude. 73 Jahre? Die sind ihr nicht anzusehen.
Studienleiterin war sie am Pädagogisch-Theologischen Institut in Berlin. Im Herbst plant sie, noch ein postgraduales Politik-Studium zu beginnen. Eine Frau, die mitten im Leben steht. Und sie neigt nicht zur Verklärung. Auch ihrem Vater will sie nicht vorbehaltlos den Heldenkranz flechten: „Noch 1929 hat er Hitler verehrt.“ Ein halbes Jahr diente er in der „Schwarzen Reichswehr“, dem damals illegalen Heer. Das Umdenken kam erst, als Rudolf Damrath etwas tat, was sich damals nur die wenigsten stolzen Besitzer von „Mein Kampf“ zumuteten: Er las den Wälzer wirklich. Danach stand für ihn fest: „Hitler ist ein Verbrecher.“ Erstaunlich mutet heute an, dass ausgerechnet die Kirche des Militärs, die Garnisonkirche, ein „Nest“ mit regimekritischen Pfarrern wurde. Es war das Verdienst des Feldbischofs Franz Dohrmann, einem engen Freund Damraths. „Von Dohrmann weiß man“, schreibt Garnisonkirchen-Experte Andreas Kitschke in seinem Buch über den Wiederaufbau, „dass er nur Geistliche in der Militärseelsorge einsetzte, die der Bekennenden Kirche nahestanden.“ Dohrmanns Maxime: Keine Pfarrer aus den Reihen der regimetreuen „Deutschen Christen“. So kam es, dass die Kirche nicht – wie eigentlich von den Nazis gewünscht – zum „Weihetempel des Dritten Reichs“ wurde. Stattdessen hatte die Gestapo fast schon Stammplätze in den Gottesdiensten. „Wenn man meinen Vater zur Rede stellte, sagte er, er habe doch nur über Bibelstellen gepredigt – nicht über Politik“, erzählt die Tochter.
Doch gerade hier – in Nachbarschaft zum Infanterieregiment 9 – ging es natürlich hochpolitisch zu. Schon vor dem Krieg spitzte sich die Unzufriedenheit unter den Militärs zu. Grund war der neue Fahneneid. Statt auf „Volk und Vaterland“ zu schwören, musste man nun einem Einzelwesen, dem „Führer“, Treue geloben, dessen wahre Natur für viele immer offensichtlicher wurde. Der Zwiespalt – Soldatenehre gegen moralische Einsicht – zerriss viele, so dass sie in ihrer Not Rat beim Pfarrer suchten. Damraths Rat war glasklar: „Geht nach eurem Gewissen.“ Auch er selbst ging später diesen Weg. Als sich die Wehrmacht zum Rückzug aus Frankreich aufmachte, kehrte er vor der Grenze um – zu den verwundeten Soldaten, die man im Pariser Lazarett zurückgelassen hatte. Er wollte sie nicht im Stich lassen. Bald darauf geriet er in Kriegsgefangenschaft.
Später, als er zum Beispiel die Berliner Stadtmission leitete, sei ihr Vater über alle Maßen fromm geworden, erinnert sich die Tochter: „Manchmal ging er uns Kindern ein bisschen auf die Nerven, weil er so pietistisch war.“ Aber Damraths Frömmigkeit erwuchs aus den schrecklichen Grenzerfahrungen im Krieg, den vielen Sterbenden und den Gräueln. Es war eine Zeit, in der Kirche und Regime teilweise auch den unheilvollen Schulterschluss übten. 1934 hatte er als einer der wenigen mutigen Pfarrer seine Unterschrift unter eine Bekenntnisschrift gesetzt: „ … Weil wir denn Christen werden nicht durch die Geburt, durch Rasse oder Blut, … verwerfen wir die Forderung, dass nur arische Christen Glieder der deutschen evangelischen Kirche sein dürfen.“ Auch diese Sätze stehen für den Geist der Garnisonkirche mit ihrer .Geschichte aus Licht und Schatten. (MAZ vom.14/15.07.2012, von I. Röd)